Ich freu mich, mit einer „etwas anderen Kurzgeschichte“ veröffentlicht worden zu sein. Für alle Fans des SciFi/ Horror:

„Das neue Corona-Jahr beginnt, wie das alte aufgehört hat: mit einer Kurzgeschichte aus unserer Themenrunde „Labyrinth“. Platz drei hat Barbara Schilling mit ihrer Story „Invasion“ belegt.“

http://www.corona-magazine.de/archiv/corona229.html#content9

oder hier direkt zu lesen …

Invasion
von Barbara Schilling

Und plötzlich hörte ich es wieder! Einem leisen, kaum vernehmbaren Kratzen folgte ein Rascheln. In meinem Zimmer. Ganz in meiner Nähe. Jetzt war ich sicher: unter meinem Bett! Eiseskälte kroch unter meine Decke und ich musste mich beherrschen, nicht laut aufzuschreien. Ein leichtes trockenes Rascheln – wie braunes Laub auf dem Asphalt. Das Geräusch war … irgendwie unpassend. Es kam mir seltsam fremd und damit Gefahr verheißend vor. Es folgte rhythmisch meinem hektischen Atem, schien mir. Dann hörte es auf. Als sei jemand mit dem Rechen gekommen. Atemlos lauschte ich wieder in die Stille. Nichts. Kein Ton mehr. Das Labyrinth in meinem Kopf wurde immer enger …
Gerade als sich mein Herzschlag beruhigen wollte, hörte ich es wieder. Näher als je zuvor. Meine zitternden Finger krabbelten, panischen Spinnen gleich, orientierungslos die weiße Wand entlang – auf der Suche nach dem Schalter. Unglücklich tastete ich nach der einzigen Möglichkeit: Licht!
Hell erleuchtete die runde Deckenlampe das Zimmer. Ich musste mich überwinden, die Decke aufzuschlagen, und es dauerte Minuten, bis ich es endlich wagte, meine nackten Füße auf den Fußboden zu setzen. Meine Sohlen meldeten Eis. Vorsichtig ließ ich mich auf die Knie sinken. Ich holte tief Luft und schloss unwillkürlich die Augen, bevor ich meinen Oberkörper beugte. Ich musste, verdammt noch mal, nachschauen, was dort war. Meine Lider verweigerten den Dienst, sodass ich sie gewaltsam mit meinen Fingern öffnen musste. Mit aufgerissenen Augen sah ich das Dunkel unter der Matratze. Da war – nichts. Die grauen Schatten formten sich zu einem großen undurchdringlichen Nichts. Ich streckte die Hand aus, Zentimeter um Zentimeter krochen meine Hände nach vorn. Die Ungewissheit und die Furcht verstärkten die Kälte in meinen Gliedern. Ich roch den Staub vergangener Jahre. Und plötzlich hörte ich es wieder! Ich erstarrte vor Schreck. Verworrene Gänge meldeten sich in meinen Gehörgängen zu Wort: „Horch! Horch!“ Das Rascheln mischte sich mit einem Knarzen. Ein Gefühl, als würde Holz bearbeitet. Warm und doch unerbittlich. Weiter und weiter fraß es sich in mein Innenohr, bis es kurz vor dem Gehirn innezuhalten schien. Unfähig mich zu rühren, verharrte ich in unbequemer Stellung. Dann zog sich das Knarzen zurück. Auf einmal. Es schmerzte, doch ich hielt mir zufrieden das Ohr. Gut, dass es fort war. Es gehörte nicht hierher! Nicht unter mein Bett.

Am nächsten Tag sah ich sie das erste Mal. Zufällig. Als ich den Sessel verrückte. Sie wirkte dick und rund, glänzte schwarz, aber nicht schön. Mit offenem Mund betrachtete ich das Ding: Erst auf den zweiten Blick fiel mir auf, dass es, anders als ich, nicht allein war. Sie waren zu zweit gekommen. Wer weiß, vielleicht warteten draußen noch mehr. Ich musste ein Exempel statuieren, auch wenn es mir davor graute, wie noch nie vor etwas in meinem ganzen Leben. Sonst würden sie alle über mich herfallen. Früher oder später. So war die Natur. Sie kannte keine Gnade. Nicht einmal mit mir. Mit spitzen Fingern versuchte ich, das Paar – war es ein Paar? – aufzunehmen. Sie lagen nun dicht vor meinem Gesicht auf meiner gefühllosen Handfläche. Kellerasseln. Beide Tiere streckten mir ihre Rückenpanzer entgegen. Ich wendete angewidert den Kopf ab und – statuierte ein Exempel. Nachdem ich mich übergeben hatte, suchte ich den Teppich ab. Denn nun hörte ich sie. Das vielzählige Trippeln der winzigen Füßchen. Sie kamen, die anderen, um nach ihren verschollenen Gefährten zu suchen. Um Rache zu üben. Ich schauderte bei dem Gedanken, doch verbrachte ich den Rest des Nachmittags damit, hartnäckig weiter zu suchen. Irgendwo hier in diesem Läufer waren noch mehr, die nur darauf warteten, mich zu überraschen.
Das Labyrinthische meiner Gedanken nahm zu: Die Wände schienen zu wachsen, kein Ausweg in Sicht. Ich kaufte Insektenspray, das mit dem größten Totenkopf auf der Dose, das ich finden konnte. Ich trug den Karton ins Haus und lauschte. Da, ganz kurz noch hatte ich sie gehört, auch wenn sie sich jetzt bemühten, still zu sein. Ich hatte sie vernommen. Ich leerte sämtliche Dosen Vernichtungsmittel auf dem Teppich aus und bemerkte ein leichtes Schwindelgefühl. Das Kratzen, Rascheln, Knarzen und Trippeln war nun deutlicher denn je zu hören. Mit letzter Kraft schaffte ich den großen Läufer in den Garten – und verbrannte ihn. Wie herrlich das Feuer ihre Sterbensschreie übertönte. Es knackte und knisterte – und es war gut so.

In dieser Nacht erwachte ich vom Schaben. Jemand schabte in meinem Haus, wieder in meinem Zimmer. Ich legte das Ohr an die Wand. Licht war überflüssig. Ich konnte sie fühlen. Es waren Dutzende, die hinter der Tapete arbeiteten. Sie bereiteten etwas vor. Sie bauten, gruben und wälzten. Ich drückte meinen Körper gegen die Mauer, und in meinem Innern nahm ihre kleine organisierte Gesellschaft Gestalt an. Ohne zu wissen, zu welcher Insektenart sie gehörten, war mir doch vollkommen klar, dass die Parasiten waren. Sie würden Krankheiten übertragen und mein Haus beschädigen. Wenn ich sie gewähren ließe. Aber ich hatte sie aufgespürt. Und nun sagte ich dem Ungeziefer den Kampf an. Entschlossen stand ich auf und ging, nur im Hemd, in die Garage. Ich schleppte Hammer und Meißel, einen Spaten und die Spitzhacke herbei. Immer noch verzichtete ich auf Beleuchtung. Ich wusste, wo sie ihr Unwesen trieben. Schweiß trat auf meine hohe Stirn, als ich den Meißel ansetzte. Heiße Erregung erfasste meinen Arm; aufgeregt wackelte mir der Kopf auf den Schultern, während ich mit aller Kraft auf die Wand des Unheils einhämmerte. Im Morgengrauen war ich fertig. Ich hatte sie vertrieben, hatte ihr destruktives Werk zerstört, bevor sie richtig beginnen konnten. Kurz nach Sonnenaufgang fiel ich in einen tiefen traumlosen Schlaf.

Die braune Spur führte direkt in meine Kaffeetasse, die unberührt auf der Arbeitsfläche stand. Durch den Fensterrahmen hatten sie sich gezwängt; einige waren aus dem Mauerwerk gekrochen. Hundertschaften wuselten über die glatte Oberfläche der Arbeitsplatte geradewegs in das unschuldige Weiß meiner Lieblingstasse. Gezuckerter Milchkaffee – sie liebten das Süße. Das war ihre Schwäche. Sie würde ihnen in den nächsten Minuten zum Verhängnis werden. Ich betrachtete voller Hass und Ekel die wimmelnde breite Linie in meiner Küche. Einen Moment. Noch einen Moment. Dann schlug ich zu. Ich oder sie … Mittelgroße Findlinge aus dem Garten, gerade leicht genug, um sie zu heben, aber schwer genug, um alles unter sich zu zermalmen. Auch die noch so winzigen Übeltäter, Störenfriede, Invasionäre! Ich hob beide Arme hoch über den Kopf und ließ den Stein auf das Volk krachen. Außer der Tasse war nicht viel zerstört. Nur einige wenige Tiere klebten matschig auf dem Stein, andere schwammen in der Kaffeelache um ihr Leben, der Rest hatte noch nicht viel bemerkt. Wieder ließ ich meine Macht auf sie niedersausen. Es krachte, und ich sah, dass ich dieses Mal besser getroffen hatte. Und plötzlich hörte ich es wieder! Ein hohes kreischendes Quietschen, wie von einer alten Tür, die nicht auf- noch zuging. Ich schlug und schlug – mir wurde schwarz vor Augen. Doch ich gab nicht auf, bis ich auch die letzte vielbeinige, dickbauchige Ameise vernichtet hatte. Befriedigt sah ich auf die Trümmer meiner Küche. Die würden nicht so schnell wiederkommen. Oder doch? Unruhe erfasste meine Beine. Sie begannen, das Haus abzugehen. Vom Keller bis zum Dachboden war kein Raum sauber. Ich griff mir verzweifelt ins Haar. „Alles verseucht!“ krächzte ich. Nichts war mehr unbefallen. Sie hatten den Totalangriff gestartet. Ich fand Ameisen, Asseln, Blattläuse (im Arbeitszimmer!), Fliegen, Holzwürmer, Larven, Käfer, Raupen, Schnecken, Silberfischchen, Spinnen, Termiten und Zecken. Hunderte verschiedener Arten krabbelten, krochen und kullerten in meinem Haus herum. Sie steckten unter dem Fußboden, ich riss die Dielen heraus, hinter den Türen, ich stemmte die Rahmen auf, zwischen den Möbeln, ich warf alle aus dem Fenster, in Vorhängen und Kissen, ich zerschnitt jeden Quadratzentimeter, kamen aus den Abflüssen, ich riss die Rohre entzwei. Es war dunkel. Es war still. Ich hatte gewonnen. Ha, damit hatten sie nicht gerechnet. Aber nicht mit mir. Nicht von so kleinen Biestern, wie viele sie auch sein mochten. Ich schloss beruhigt die Augen. Und plötzlich hörte ich es wieder!
Es war ein schreckliches Geräusch. Organisch – und nah, so nah … Mein Handgelenk flog an mein Ohr. Da war es, ein Klopfen und Rauschen. Angstvoll presste ich beide Arme auf die Muscheln. Von rechts und links. Sie waren wirklich überall. Ich konnte hören, wie sie sich durchbissen. Unter meiner Haut. Durch das weiche Fleisch. Es waren viele. Ich musste mich beeilen. Bedächtig ließ ich die Arme sinken. Ich würde sie aufhalten. Schnell, aber sicher stieg ich die Treppe hinunter. Ich musterte die verschlungene Struktur der Tapetenmuster und schlug mir unwillkürlich an die Schläfe.
Im Bad knipste ich das Licht an, aber als ich alles beisammen hatte, löschte ich es wieder, denn ich konnte sie hören. Laut und deutlich in meinem Körper. Es kribbelte in meinen Zehen. In den Extremitäten hatten sie sich bereits verbreitet und fraßen sich nun voran. Ich musste sie aufhalten, bevor sie mein Gehirn erreichten. Knapp unter der Haut mussten sie stecken. Ich setzte das Teppichmesser an, begann bei den Fingern. Bei den Zehen wurde ich beinahe ohnmächtig, doch es musste getan werden, bevor sie weiter nach oben kletterten. Hammer und Meißel begleiteten mich. Unter der Kniescheibe entdeckte ich sie. Auch zwischen Elle und Speiche. Schneller, schneller. Ich arbeitete unter Hochdruck, setzte die Spitzhacke am Oberschenkel ein, triumphierte, als ich die Stille vernahm. Doch dann hörte ich es plötzlich wieder! Im Innern meines Gehirns; sie irrten nicht mehr durch die labyrinthischen Gehirnwindungen, sie waren angekommen. Doch ich würde sie nicht gewinnen lassen. Ich nahm den Stein und hob beide Arme hoch über den Kopf …